Wer den Roman 1984 von Eric Arthur Blair (George Orwell) kennt, kann sich vorstellen, was mit dem Begriff Teleschirm hier gemeint ist. Es geht nicht um die Flimmerkiste in vielen Wohnzimmern, auch nicht um den Teleprompter, der den Alltag mancher öffentlicher Redner auf simples Ablesen reduziert, sondern um ein Gerät zur Überwachung der Untertanen in den eigenen vier Wänden.
In Orwells’s Roman besitzt der Teleschirm einen Bildschirm, eine Kamera, Lautsprecher und ein Mikrofon. Big Brother kann damit Propagandafilme zeigen, spielt Propagandamusik, filmt die Untertanen in ihren Wohnungen und registriert jedes Wort und jedes Geräusch. In anderen Worten:
Totale Überwachung.
Während in der Welt von Orwell’s Dystopie die Installation eines solchen Teleschirms zu Hause Zwang ist, und man z.B. auch verpflichtet ist jeden Morgen am gemeinschaftlichen Turnen vor dem Bildschirm unter dem wachenden Auge des Big Brother teilzunehmen, sind die Menschen heutzutage in der Realität anscheinend schon bereit, sich ein technisch sehr verwandtes Gerät freiwillig in den Haushalt zu implantieren.
Möglich wird das durch einen niedlich wirkenden elektronischen Hasen genannt Karotz der Firma Mindscape für nicht ganz 200€. Auch wenn dieses Ding harmlos erscheint, hat es das Plastiknagetier technisch faustdick hinter seinen Polycarbon-Ohren. Auf dem offiziellen Blog von Karotz wird das Produkt so beschrieben:
Karotz ist ein intelligentes, kommunizierendes, hasenförmiges Objekt, das sich über WiFi mit dem Internet verbindet. Karotz ist der ideale Begleiter. Er ist hübsch, niedlich, lustig und gebildet. Karotz ist außergewöhnlich: Er kann sprechen, hören, gehorchen und seine Ohren bewegen! Es tut alles, um sich nützlich zu machen und Sie zu unterhalten!
Die Entwickler haben sich sogar eine kleine Geschichte zu ihrem Hasen aus Plastik und Silizium ausgedacht:
2009 durchliefen wir auf unserem Hasenplaneten eine in der Geschichte bisher einmalige, Wirtschaftskrise und unsere Art wurde fast ausgerottet (schnief, schnief …). Dadurch wurde die Rettung der intelligenten Hasen eine Angelegenheit nationaler Priorität und führte zu einer globalen Mobilmachung. (…)
(…) Unsere Fortpflanzung hat begonnen … Wir wollen die Welt erobern und unsere allumfassende Wärme in jeden Haushalt bringen!
Wenn das nicht mal interessant ist! Anscheinend sind Wirtschaftskrisen in der ganzen Galaxie Gang und Gebe … und die Lösung scheint in einer globalen Nation inklusive Mobilmachung zu liegen. Klingt nicht gerade nach Spass … Naja, es gibt kreativere Geschichten!
Was kann denn nun dieses intelligente weltenvernichtende Objekt im Hasenformat so alles? Hier ein offizieller Werbeclip dazu:
Die Hersteller werben damit, dass ihr Karotz …
- … freie Anrufe vom Smartphone zum Karotz …
- … freie Anrufe von Karotz zu Karotz …
- … eine Benachrichtigung, wenn ihr Kind nach Hause kommt …
- … Foto- und Filmaufnahmen im Bereich des Karotz …
- … Unterhaltungsmöglichkeiten wie das Abspielen von MP3s und die Verwendung sozialer Netzwerke …
… ermöglichen wird. Außerdem liegen schon die Pläne vieler weiterer herunterlad– & erwerbbarer Applikationen auf den Schreibtischen der Entwickler. In Zukunft wird es z.B. möglich sein, dass ihr Karotz Ihnen den Facebook-Status Ihrer Freunde und der Seiten, die Ihnen gefallen, vorliest. Gleiches gilt für alle möglichen R.S.S.-Feeds: „Karotz bietet Ihnen alle Informationen, die Sie verfolgen möchten. Sie können Ihre Wunschnachrichten verfolgen: Sport, Weltgeschehen, Politik, Wirtschaft, Unterhaltung, Klatsch …”. Das eigene Smartphone dient dabei als Fernsteuerung und Empfangsgerät.
Besonders interessant finde ich die Anwendung mit der automatisierbaren Benachrichtigung, wenn jemand in die Nähe des Karotz kommt:
Diese Anwendung informiert Sie mittels RFID oder Sprachsteuerung, wenn jemand Ihr Heim betritt. Karotz schickt Ihnen eine E‑Mail oder eine SMS, die Sie mit dem Namen der Person und dem Inhalt der Nachricht personalisieren können.
Wenn zum Beispiel Ihr Kind aus der Schule nach Hause kommt, teilt es dies Karotz mit einem Nanoz oder durch Sprache mit, und Sie erhalten eine E‑Mail oder SMS mit dem Text „Peter ist aus der Schule zurück.”
Die dabei verwendeten Nanoz, sind kleine RFID-Chips im Hasenkostüm, die bequem in jede Kindertasche passen und auf den Mutterkarotz einstellbar sind. Aber auch mittels einfacher Spracherkennung springen schon die Ohren und Antennen des Karotz an. Big Brother würde bei solchen Möglichkeiten das Wasser im Munde zusammenlaufen!
Warum ist denn dieser Hase gefährlich?
Vielleicht sieht der eine oder die andere noch nicht die Gefahr, die hinter solch einem harmlos wirkenden Gerät stecken kann (abgesehen davon, dass persönliche Kommunikation immer besser für das Familienklima ist und man sich sowas gar nicht erst anschaffen sollte).
Ich pflege bei solchen Dingen stets zu sagen: „Wehret den Anfängen!”
Vielleicht ist diese kleine Maschine in diesem Entwicklungsstadium noch unbedenklich, allerdings möchte ich hier auf andere elektronische Geräte verweisen, die sich als wahre Datensammelkraken entpuppt haben: Auf dem iPhone und dem iPad wurde im April 2011 durch unabhängige Journalisten zufällig eine Datei entdeckt, die seit dem iOS 4 Update genaue Bewegungsprofile ihrer Nutzer inklusive Zeitangaben erstellt. Diese wird dann ohne Bestätigung bei der nächsten Synchronisation mit dem Heimcomputer auf der Festplatte gespeichert. Auch der britische Guardian berichtete darüber in einem längeren Artikel. Wozu man die gewonnenen Personendaten braucht wurde von Apple am Ende einer 15.200-Wörter langen Nutzungsbedingungserklärung für die Verwendung des iTunes-Programms unter dem Punkt Location-Based Services wie folgt dargestellt (dieses Programm wird für die Synchronisierung des iPod, iPad & iPhone verwendet):
Diese Daten werden anonym in einer Form gesammelt, welche sie nicht persönlich identifizierbar macht, und wird von Apple, unseren Partnern und unseren Lizenznehmern verwendet, um ortsbasierte Produkte und Leistungen zur Verfügung zu stellen und zu verbessern. Zum Beispiel können wir geographische Daten mit den Applikations-Anbietern teilen wenn sie deren Standort-Dienste verwenden.
Einen Absatz weiter steht noch:
Der Umgang mit durch Drittparteien gesammelten Informationen, welche Standortdaten und Kontaktdetails beinhalten können, werden von deren Datenschutz-Bestimmungen geregelt. Wir empfehlen Ihnen sich über die Datenschutz-Bestimmungen solcher Drittparteien zu informieren.
Und solch ein Gerät, bei dessen Anschaffung für datenschutzbewusste Konsumenten noch ein Rattenschwanz an Arbeit drin steckt, soll nun mit einem weißen Datenschwamm-Karnickel verbunden werden? Nimmt man solche erschreckenden Erkenntnisse über die Handhabung persönlicher Daten mit den schleichenden Datenschutzmißständen von Google und Facebook zusammen, die ja in den verschiedensten Applikationen des iPhone und Karotz zur Anwendung kommen, und lässt man dann noch alle Fäden bei einer Multimediaschnittstelle in Form dieses Plastikhasen im eigenen Wohnzimmer zusammenlaufen, so addiert sich zumindestens in meinem Kopf eine gefährliche Gewitterwolke zusammen.
Die USamerikanische Polizei ist schon soweit, die Gesichtserkennung des iPhone zur Erfassung biometrischer Daten und der Identifizierung von verdächtigen Personen zu verwenden, wie in den Artikeln von Welt Online am 14.07.2011 oder ORF am 13.07.2011 berichtet wird. Doch brauchen die Behörden wirklich noch solch technischen Schnickschnack, wenn doch die Untertanen ganz bequem zu Hause ausspioniert werden können, noch dazu freiwillig? Ich beobachte schon seit geraumer Zeit, wie Schritt für Schritt der Umgang mit persönlichen Daten gelockert wird und sich die Menschen mehr und mehr an die Überwachungsmaßnahmen gewöhnen. Das Schlimmste ist aber, dass die Menschen mittlerweile schon freiwillig einen Privat-Striptease hinlegen und z.B. auf Sozialplattformen wie Facebook der Welt ihren kompletten Alltag darlegen.
Man kann den Entwicklern des Karotz natürlich vertrauen, wenn man will. Man kann auch den vielen Drittanbietern und Apple vertrauen, wenn man will.
Man darf aber nicht vergessen, dass viele Firmen, je größer desto eher, besonders im Kapitalismus dem Gewinnprinzip und weniger moralischen Wertvorstellungen unterliegen! Lässt man diese Tatsache mal außen vor und schreibt dem französischen Unternehmen Mindscape gute Absichten zu, so sticht trotzdem noch die ohrwurmverdächtige Musik im gezeigten Werbeclip hervor. Können sie sich an den Text oder dessen Botschaft erinnern? Wenn nicht, dann lade ich sie ein, sich den Werbefilm nochmal anzuhören:
Warum nimmt man solch ein Lied als Werbemusik? Will man den Kunden subtil suggerieren, dass sie gefälligst brave gehorsame Untertanen sein sollen, die sich auch noch freiwillig ausspionieren lassen sollen, weil sie ansonsten Höllenqualen erleiden werden? Der Text könnte glatt direkt aus Orwell’s berühmtem Roman stammen. In der englischen Version des Werbeclips sieht man zusätzlich am Ende einige ahnungslose Menschen das Handzeichen des Baphomet machen. Das okkulte Symbol wird gerne von Satanisten verwendet, aber auch in der Musikindustrie und in der Politik kann man bei geschärfter Wahrnehmung dessen Verwendung öfters beobachten. Auch das weiße Kaninchen bietet Raum für Interpretation. So wird es seit Alice in Wonderland („folge dem weißen Kaninchen”) als ein Symbol für Gehirnwäsche verwendet und hat in vielen Filmen und in der Musik dementsprechend Eingang gefunden (The Matrix, Black Swan, Jefferson Airplane, etc.).
Selbst wenn man im Allgemeinen vorsichtig und bedacht mit seinen Informationen, besonders im Internet umgeht, kann man sich trotzdem nie sicher sein, in welchem Computer, bei welcher Firma oder Regierung nicht schon ein genaues Profil seiner Persönlichkeit, seiner Wünsche und Vorlieben, seines Konsumverhaltens und seines „Gefahrenpotenzials” vorliegt. Auch wenn man nie irgendwelche Daten von sich in ein Medium eingegeben hat, so können Firmen z.B. über die Postings und Fotoveröffentlichungen von Freunden auf Facebook (jetzt neu inklusive automatischer Gesichtserkennung) an ein ordentliches Maß an unfreiwillig-veröffentlichten Informationen herankommen.
Ich kann prinzipiell nur zu äußerster Vorsicht im Umgang mit persönlichen Daten raten und zur Eigenrecherche – vor allem Kindern sollte der richtige Umgang mit dem Internet und den anderen Medien beigebracht werden. Wäre ein (vorübergehender) Boykott solcher invasiver Produkte ein geeignetes Mittel um Druck auf die Unternehmen auszuüben? Wer sowas als adäquat erachten würde, kann darüber nachdenken. Die Verwendung des „Echten Lebens” (im digitalen Jargon auch als „real life” bezeichnet) zum Treffen und Plaudern mit Freunden sollte man ohnehin immer bevorzugen. Für den Kontakt mit weiter entfernten Liebmenschen ist die gute alte Email den Datenkraken wie Google+, Facebook und StudiVZ in Sachen Datenschutz immer noch haushoch überlegen (außer man verwendet natürlich Googlemail …). Die Königin der sicheren Kommunikation stellt aber immer noch die klassische Post dar – mit ihrem seit Zeitaltern bewährten Briefgeheimnis.
Damit sich der Mensch als freies Individuum entfalten und damit auch die Gemeinschaft als Ganzes verbessern kann, braucht man eine geschützte Privatsphäre. Wir sollten uns daran beteiligen, dass das so bleibt! 🙂
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PS: Als ich Karotz das erste mal sah kam mir witzigerweise diese bekannte Szene aus Monthy Python’s Die Ritter der Kokosnuss in den Sinn. Viel Spass beim Anschaun:
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Download: hier oder
— Alice – hier oder
— Monty – hier oder
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